Sind Führungskräfte in der Sozialwirtschaft die besseren Führungskräfte? | Interview mit Prof. Dr. Stefan Jung

1. FRAGE VPG:
Herr Professor Jung, Sie sind Professor für Management und Organisation an der Internationalen CVJM-Hochschule in Kassel.
Als Kenner der Sozialwirtschaft zählen auch Management- und Führungsmethoden zu Ihren Lehr- und Forschungsschwerpunkten. Was sind die fünf Kernkriterien guter Führung?

ANTWORT PROF. JUNG:
Leider gibt es eine solche Checkliste mit Kriterien nicht. Aber es gibt drei Punkte, auf die sich Führungskräfte heute einstellen müssen: Führungskräfte müssen erstens mit verschiedenen und sich teilweise widersprechenden Erwartungen und Ansprüchen umgehen können.
Aus unserer eigenen Forschung zur Führung in diakonischen Unternehmen weiß ich, dass die Führungskräfte dort wirtschaftliche und religiöse Ansprüche austarieren müssen. Sie können zwar mal die ökonomische, mal die diakonische Seite stärker betonen, aber sie können sich nicht nur auf eins versteifen und das andere außen vor lassen. Und auch außerhalb der Sozialwirtschaft müssen die Führungskräfte verschiedenen Ansprüchen gerecht werden: Nicht alles, was die Rendite fördert, ist gut für das Image und lässt sich ohne Widerstände durchsetzen. Oder die Bedürfnisse der Kundinnen und Kunden sind nicht immer kongruent mit den Bedürfnissen der Mitarbeitenden. Führungskräfte müssen mit all diesen Anforderungen und teilweise widerstrebenden Bedürfnissen umgehen können, was nicht einfach ist.
Wenn man so will: eine gute Führungskraft ist ambivalenzfähig.

Um das zu schaffen, besitzen Führungskräfte zweitens die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, was Fluch und Segen zugleich sein kann.
An der Spitze von Unternehmen genießt man die Freiheit, dem Unternehmen die Richtung vorzugeben. Die Führungskraft kann Akzente setzen, was sonst niemand im Unternehmen so kann. Gleichzeitig stehen die Führungskräfte dann aber auch in der Verantwortung, entscheiden zu müssen. Sie können nicht ständig etwas aussitzen oder nach oben weiterreichen. Sie müssen Entscheidungen treffen, manchmal auch unangenehme, und dafür gerade stehen. Auch damit müssen Führungskräfte umgehen können. Gute Führung entwickelt die Entscheidungsfähigkeit – die eigene und die der Organisation.

Als dritten Punkt will ich noch nennen, dass Führungskräfte sich davon verabschieden müssen, alles zu wissen und alles selbst zu entscheiden. Sie müssen sich auf ihre Mitarbeitenden verlassen und ihnen vertrauen. Mitarbeitende wissen viel mehr, als die Führungskraft je wissen könnte. Welcher Firmenchef kennt sich in der Buchhaltung so gut aus wie der Buchhalter und in der Marketingabteilung so gut wie die PR-Expertin? Zwar besitzen die Führungskräfte große Entscheidungsspielräume in ihren Unternehmen, aber die Entscheidungen sind immer schon durch die Mitarbeitenden vorgeprägt: Arbeitsgruppen erarbeiten Vorschläge und Juristen empfehlen bestimmte Handlungen. Der Soziologe Niklas Luhmann hat dafür das schöne Wort „Unterwachung“ geprägt. Dabei geht es nicht um Intrigen gegen die Führungskräfte, sondern um die Steuerung der Führungskraft von unten – eben zum Beispiel durch Vorlagen.

2. FRAGE VPG: 
Im Rahmen der von uns angewandten Eignungsdiagnostik stellen wir häufig fest, dass eine starke Konsensorientierung anzutreffen ist: Können Sie das aus Ihrer Beobachtung heraus bestätigen?

ANTWORT PROF. JUNG:
Ein Unternehmen, in dem Konsens und Harmonie herrscht, wird natürlich von allen gewünscht. Und die Sozialwirtschaft sieht sich als besonders konsensorientiert. In einem Interview, das wir für das Projekt „Diakonische Unternehmensführung“ geführt haben, sagt eine Führungskraft: „Unser Ziel ist es, zu 80% konsensual zu führen.“ Die Konsensorientierung ist stark im Selbstbild der Sozialwirtschaft verankert. Die Ergebnisse unserer Studie – wo wir die Praxis der Führung untersucht haben – zeigen jedoch ein anderes Bild: Die Führungsgremien entscheiden oftmals allein, was zu tun ist. Sie holen sich zwar – ganz im Sinne der „Unterwachung“ – Informationen oder Meinungen ein, letztendlich sind es aber oftmals ausschließlich die Vorstände, die zahlreiche Entscheidungen treffen. Erst danach, nachdem die Entscheidung bereits gefallen ist, versuchen sie, Mitarbeitende und Aufsichtsgremien von der Entscheidung zu überzeugen. Wenn man so will: Sie „organisieren im Nachhinein einen Konsens“, um das Selbstbild nicht zu beschädigen. Denn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen die Entscheidung umsetzen, ohne sie geht es nicht. Und die Aufsichtsgremien dürfen die Entscheidung nicht blockieren. Unsere Forschung in diakonischen Unternehmen zeigt, dass erst die Entscheidung getroffen und erst danach Konsens dafür im Unternehmen gesucht wird.

3. FRAGE VPG: 
Gibt es „Führungscharisma“?

ANTWORT PROF. JUNG:
Bei Projektbesprechungen oder Teamsitzungen, bei denen nur gleichrangige Mitarbeitende, also nur Teammitglieder aber keine Teamleiter, anwesend sind, übernimmt zumeist eine Person die Leitung. Die neuere Organisationstheorie hat dafür den Begriff „Laterale Führung“ entwickelt, also „Führung zur Seite“. Es wird dabei ohne Weisungsbefugnis und hierarchische Steuerung geführt. Wer dann die Führung übernimmt, hängt natürlich neben der Persönlichkeit auch davon ab, wir gut die Person auf andere einwirken kann, welche Kompetenzen ihr zugeschrieben werden. Natürlich haben es charismatische Typen oftmals leichter, in diese Position hineinzukommen. Aber Vorsicht: Charisma kann sich verbrauchen, schnell entzaubern sich „charismatische Führungstypen“ von allein. Das Entscheidende ist, dass sich Charisma weder trainieren lässt, noch, dass man sich darauf verlassen könnte. Wem man – abseits der Hierarchie – beispielsweise im Sinne der lateralen Führung zu folgen bereit ist, entscheiden die Mitarbeitenden selbst. Es handelt sich also um ein reziprokes Spiel und weniger um eine ontologische Eigenschaft.

4. FRAGE VPG: 
Wenn es also nicht das Charisma ist, was kann eine Person denn tun, um auf andere einzuwirken?

ANTWORT PROF. JUNG:
Der Organisationswissenschaftler Stefan Kühl macht beim lateralen Führen drei Einflussmechanismen aus, mit denen man in einer Sitzung oder einer Besprechung führen kann. Es handelt sich um Vertrauen, Verständigung und Macht. Vertrauen baut man auf, indem man in Vorleistung geht und auch mal ein Risiko eingeht. Die Anderen werden später das Vertrauen erwidern. Vertrauen hat viel mit Integrität zu tun, also damit, ob ein Mensch das, was er denkt, auch sagt und was er sagt auch tut und schließlich das, was er tut auch verkörpert. Bei der Verständigung geht es darum, die Denkstile der Anderen zu verstehen, sich in Andere hineinfühlen zu können, gewissermaßen empathiefähig zu bleiben. Und zwar so, dass sich dadurch neue Handlungs- und Kooperationsmöglichkeiten auftun. Der Faktor Macht schließlich entsteht beim lateralen Führen nicht durch den Status oder durch die Befugnisse, sondern durch andere, subtilere Machtmittel: Zum Beispiel indem man Expertenwissen besitzt oder Kontakte nutzen kann. Eine Person kann sich diese Einflussmöglichkeiten zunutze machen. Er oder sie kann versuchen, Vertrauen zu den Kolleginnen und Kollegen aufzubauen, da so auch die Verständigung leichter fällt. Wird man Experte bzw. Expertin für einen bestimmten Bereich, kann man andere mit seinem Wissen überzeugen und gewinnt so Macht.
Allerdings gibt es hier kein Patentrezept für gute laterale Führung, da jede Situation anders ist und jedes Mal das Zusammenspiel von Vertrauen, Macht und Verständigung neu ausbalanciert werden muss. Kennt man jedoch die Einflussmöglichkeiten, kann man sie nutzen, um zu führen, auch wenn man offiziell keine Führungskraft ist.

5. FRAGE VPG: 
Was können sich Führungskräfte aus der Industrie bei Ihren Kolleginnen und Kollegen aus der Sozialwirtschaft abschauen?

ANTWORT PROF. JUNG:
Ich bin skeptisch, ob gute Führung in der Industrie grundlegend anders aussieht als bei den Kolleginnen und Kollegen in der Sozialwirtschaft. Beide müssen mit widersprüchlichen Erwartungen umgehen können. Was man vielleicht sagen kann: In der Sozialwirtschaft treten „ethische Dilemmata“ offener zu Tage. Wenn man bei einer großen Bank zu Gunsten des Shareholder Values entscheidet, wundert sich im Prinzip niemand. In der Sozialwirtschaft ist das anders. Das bedeutet nicht, dass dort Entscheidungen per se „normativ angepasster“ wären oder in ethischer Hinsicht besser. Aber die Widersprüchlichkeit, die zwischen der „Systemlogik der Organisation“ und den Werten ihrer Mitglieder bestehen, treten offener zu Tage. Gute Führung in der Sozialwirtschaft ist deshalb eine ambivalenzfähige Führung. Vielleicht können sich die Kollegen aus der Industrie das abschauen.

6. FRAGE VPG: 
Und was können sich Führungskräfte der Sozialwirtschaft noch von anderen Wirtschaftszweigen abschauen?

ANTWORT PROF. JUNG:
Organisationen der Sozialwirtschaft sind oftmals nicht ablehnungsfähig. Es gehört zu ihrem Organisationszweck, anderen zu helfen. Dafür ist man bereit, auch wirtschaftliche Risiken einzugehen. Das Problem ist nur: das Regulativ, das normalen Organisationen zur Verfügung steht – nämlich wirtschaftliche Effizienz – funktioniert hier nicht uneingeschränkt. Normale Unternehmen treffen eine Entscheidung für oder gegen eine Maßnahme nach dem Kriterium wirtschaftlicher Effizienz. Wenn es was bringt, wird es gemacht, wenn es nichts bringt, dann lassen wir es. Bei sozialwirtschaftlichen Organisationen ist das anders. Hier tritt das Entscheidungsdilemma – zu Gunsten der Hilfe, ökonomische Risiken in Kauf zu nehmen – offen zu Tage. Meistens ist das dann eine nicht nach objektiven Kriterien zu entscheidende Frage. Und gerade deshalb benötigt man gute Führung, damit prinzipiell Unentscheidbares entschieden werden kann, wie der Kybernetiker Heinz von Foerster es einmal gesagt hat.

7. FRAGE VPG: 
Hand aufs Herz, Herr Professor Jung: Sind nun Führungskräfte in der Sozialwirtschaft die besseren Führungskräfte?

ANTWORT PROF. JUNG:
Natürlich nicht. Aber die Fähigkeit, widersprüchliche Entscheidungslogiken in einer produktiven Spannung zu halten – eine Art Überlebensnotwendigkeit in der Sozialwirtschaft – ist in der Sozialwirtschaft oftmals besser ausgebildet. Man trifft erstaunlich häufig auf reflexionsfähige Führungskräfte, die wissen, dass gute Führung auch eine ethische und gar eine spirituelle Dimension besitzt.

VPG:
Herr Professor Jung, vielen Dank für dieses Interview!

Prof. Dr. Stefan Jung hat den Lehrstuhl für Management und Organisation an der Internationalen CVJM-Hochschule in Kassel inne. Dort leitet er den Weiterbildungsstudiengang „Management, Ethik und Organisation“ (MEO) in dem Führungskräfte für die Sozialwirtschaft ausgebildet werden. Am EKK-Institut für Ethisches Management leitet er div. Forschungsprojekte. Stefan Jung ist einer der Gründer sowie Mitglied der Geschäftsleitung der internationalen Managementberatung Public One, Governance Consulting in Berlin.

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